Unterbrechung – Stille als Beginn des Friedens

Predigt zum Weihnachtsfest

von P. Thomas G. Brogl OP

Absolute Stille – von Dornröschen bis zur Geburt Jesu

Wir alle kennen das Märchen Dornröschen: Nach dem Tod von Dornröschen durch den Stich der Spindel tritt im Märchen absolute Stille ein. 100 Jahre lang herrscht im rosenbehangenen Schloss absolutes Schweigen– bis zur Wendung, als der Prinz kommt, die wir alle kennen.

Das Motiv der absoluten Stille begegnet uns auch in anderen Märchen, Sagen und Mythen rund um den Erdkreis. Im entscheidenden Augenblick steht alles still: Dinge und Aktivitäten, alle Tiere und Menschen. Der Schöpfungslauf ist unterbrochen.

Bei der Geburt Jesu wird im apokryphen Jakobus-Evangelium (2. Jh.) Ähnliches beschrieben. Dort berichtet Josef: „Ich ging umher und kam nicht vom Fleck. Ich blickte zum Himmel und sah, wie die Luft vor Staunen stillstand, und ich blickte hinaus zum Himmelsgewölbe und sah, wie es in seiner Bahn innehielt, und die Vögel des Himmels flogen nicht weiter. Als ich zur Erde blickte, sah ich Arbeiter, die sich zum Essen um eine Schüssel herum niedergelassen hatten. Und die etwas kauen wollten, kauten nicht, und die etwas aufheben wollten, waren in der Bewegung erstarrt, und die einen Bissen zum Munde führen wollten, saßen mit ausgestreckter Hand da, und alle blickten wie erstarrt zum Himmel … Und dann ging plötzlich alles in seinem Ablauf weiter“.

Dasselbe Motiv wie bei Dornröschen: absoluter Stillstand; fast eine Schockstarre angesichts dessen, was passiert. Biblisch formuliert ein Sabbathschweigen: Die Schöpfung steht still…

Unterbrechung, die Frieden schafft – Gedanken der Mystik

Die jüdisch-christliche Tradition kennt drei weltgeschichtlich bedeutsame Epochen des Schweigens: das Urschweigen vor der Erschaffung der Welt (4 Esra, BarApk), das Schweigen am Ende aller Zeiten (Apk) und das sogenannte „Mitteschweigen“, das Schweigen in der Mitte als Wende der Zeiten. Dieses Schweigen im Weisheitsbuch hat die frühe Christenheit in Beziehung gebracht zur Geburt Christi: „Als tiefes Schweigen das All umfing und die Nacht bis zur Mitte gelangt war, da sprang dein allmächtiges Wort vom königlichen Thron …“ (Weish 18,14). Ein Text, der die Mystiker vor allem der Deutschen Mystik gleichermaßen fasziniert wie inspiriert hat (und der weiterwirkte bis ins Lied „Stille Nacht“).

So schreibt Johannes Tauler: „Wenn Gott reden soll, müssen die Dinge schweigen“. Und sein Lehrer Meister Eckhart bringt das Weisheitswort noch in Verbindung zum „Wort“ des Johannesprolog: „Das Wort wird nur in der Stille laut“. Dabei ist diese Stille ein Einstimmen in die Sprache Gottes – und ein Einstimmen in das Eigentlichste des Menschen: das, was auf seinem Seelengrund herrscht: „Im Grunde ist Mitte-Schweigen; hier ist allein Ruhe und eine Stätte zu dieser Geburt und zu diesem Werk, das der Vater allda spreche sein Wort“ (Tauler). Dabei sind wir in dieser Geburt hineingenommen in den großen Bogen der Geburten Christi. Die Mystiker sprechen von einer dreifachen Geburt: die aus dem Vater vor aller Zeit, die in der Zeit vor 2000 Jahre und die jetzt, in diesem Moment, in uns.

Die entscheidende Voraussetzung, diese Geburt wahrzunehmen, ist aber die Stille. Anders: Das Sich-Unterbrechen. Stille heißt: dem Rad in die Speichen fassen (Bonhoeffer), Unterbrechung. Diese Unterbrechung bedeutet einen Wendepunkt, so dass Geburt, Neubeginn möglich ist. Ohne Unterbrechung, sich zu unterbrechen, gibt es nur eine ewige Wiederkehr des Gleichen; „alte Schallplatten“, aber kein „neues Lied“ (Ps 96,1).

Diese Stille ruht aber nach den Mystikern im Tal der Seele. Im Bild beschreiben sie die Seele wie ein Tal. Und in der Talsohle, am tiefsten Punkt, ruht die Stille. Diese Stille ist zugleich der Quellpunkt von allem. Wenn nun der Mensch sich ent-sinkt und ins Schweigen bzw. Hören kommt, geschieht hier Neugeburt. Wo die Dinge schweigen dürfen und wo alle Eigenschaften, alles Zerstreuende des Wollens, Verlangens und Wirkens, alle Eigenschaften des „ich soll“ und „ich muß“ ins Schweigen kommen, wird Gottes Wort in uns geboren.

Dabei ist dieses Schweigen für Tauler ein doppeltes:

1. Freiheit: Wo Dinge abfallen dürfen und alles in das Stadium eintritt, das es von Anfang herhatte – und sich Wichtiges von Nebensächlichem scheidet.

2. Ein „ewiger Brunnen“ – eine Quelle der Kreativität und Lebendigkeit.

Dass unsere Zeit so unfrei und getrieben wie auch so langweilig und müde ist – die Soziologen sprechen von „Müdigkeitsgesellschaft“ und dem „erschöpften Selbst“ (Han, Ehrenberg) -, liegt wohl daran, dass wir so wenig aus der Stille leben. Mit einem Bild Eckharts: Aus abgestandenen Wassern der Zisternen leben, aus einem Konsum und einem Kick, der sich ständig erneuern muss, aber nie wirklich unsere Seele nährt; aber nicht aus der Quelle des Schweigens, die allein das Innere jung hält und der Seele den Ort Ruhe und Kraft schenkt.

Unterbrechung leben, sich unter dem freien Himmel stellen

Die Weihnacht – wir feiern sie in der Mitte der Nacht und am dunkelsten Punkt des Jahres – erinnert uns nun an den Null- und Quellpunkt des Menschen: die Stille. Weihnachten war vor 2000 Jahren – wie im Jakobusevangelium beschrieben – Unterbrechung – und soll es auch heute sein. Wie Karl Rahner formuliert: Die Flucht in den Betrieb, das Geschwätz und das Getue aufzugeben und sich unter den freien Himmel Gottes zu stellen.

Unser Leben ist in seiner Betriebsamkeit oft wie ein Karussell, das sich – ziellos – immer schneller dreht. Nicht anders unsere Beziehungen – und die Gespräche darin: sei es über ständige Konflikte, sei es über die Corona-Diskussionen. Sie sind oft wie eine „Wiederkehr des Gleichen“.  Viele Streitigkeiten laufen nach dem immer gleichen Muster ab: Einer sagt etwas (nicht selten etwas, wo man weiß, dass es den Anderen aufregt), der andere gibt zurück – und so dreht sich die Spirale nach unten. Oft ist ein Konflikt das Abziehbild des letzten. Letztlich passiert so aber immer neu Verwundung: Alte Wunden werden neu aufgerissen und Frieden ist unmöglich.

Frieden beginnt aber mit Unterbrechung: einmal nicht in das Schema „Aktion – Reaktion“ zu gehen, zu schweigen und dem Rad in die Speichen zu fassen. Vielleicht wahrzunehmen: Was ist beim Anderen eigentlich da? Was verbirgt sich hinter den Argumenten, die nicht selten auch eine Maske sind? Oft ist es ein Verdrängen der wunden Punkte – eine Flucht vor dem Kreuz und der Angst, die der oder die Andere hat oder vor den wunden Punkten, die er in mir berührt.

Die Flucht beenden. In der Wunde still werden – und so an den Talpunkt der Existenz kommen. Dies kann befreiend sein und Neugeburt bedeuten. Das zuzulassen ist unangenehm. Aber Geburt ereignet sich auch im Evangelium in einem Stall – und da stinkt es und ist dicke Luft; oft genauso wie in unserem Inneren. Es braucht Mut, die Flucht aufzugeben, das Karussell anzuhalten, die Armut und Verletzlichkeit zuzugeben. Das Zugeben wird dann zum Nullpunkt, einem Wendepunkt – in einem Schweigen, das befreit und das den Wechsel vom Tod zum Leben bedeutet – wie beim Märchen Dornröschen. So wie in einem Gespräch, wo man plötzlich nicht mehr einander Dinge an den Kopf wirft, sondern in Ehrfurcht vor dem Anderen, vor der Wunde einen Schritt zurücktritt.

Dort, am Nullpunkt, in der Armut und der Wunde, offenbart sich dann Wahrheit. An der Wunde wird auch neu das Geheimnis unseres Daseins deutlich, das trotz aller Wunden von einem Tieferen getragen ist. Es zeigt sich das Geheimnis unseres Daseins im Licht Christi: Nicht wie es uns in unseren Bildern und Vorstellungen zurechtlegen, sondern wie es wirklich ist. Im Hinaustreten ins Dunkel, vertrauend auf Seinen liebenden Blick, leuchtet auch der Stern von Bethlehem auf: Der Stern Jesu, des „Gott rettet“. Denn dafür ist Gott Mensch geworden: um dem Unfrieden Frieden und der Wunde Versöhnung zu bringen. Und es offenbart in dieser heilsamen Berührung durch das göttliche Kind neu, wer ich bin: ein Wort Gottes, das von Gott in Liebe gesprochen ist und aus dem heraus ich bin. Aber es wird nur „ich“, wer diese Unterbrechung zulässt, die uns aus der Entfremdung herausholt. Nur durch das Schweigen treten wir ins Licht Seines Blickes – Er, der uns am Anfang unserer Existenz in Liebe sprechend in die Welt gesandt hat.

Karl Rahner hat diesen Schritt wunderbar in einer Weihnachtspredigt in diese Worte gebracht:

„Nur wer in der Stille des milden Ansichhaltens, der lassenden Ergebenheit, in der schweigenden Weihnacht des eigenen Herzens die Vielfalt der Dinge, der Menschen und der Bestrebungen zurücktreten lässt, die ihm sonst den Blick in die Unendlichkeit verstellen, nur wer die irdischen Lichter einmal wenigstens für reine kleine Weile auslöscht, die ihn sonst die Sterne des Himmels nicht sehen lassen, nur wer in solcher schweigenden Nacht des Herzens sich anrufen lässt von der unsagbaren, wortlosen Nähe Gottes, die durch ihr eigenes Schweigen spricht, so wir Ohren dafür haben, nur der feiert Weihnachten, wie es begangen werden soll, wenn es nicht zu einem bloß weltlichen Feiertag entarten soll.

Es müsste uns zumute sein, wie wenn wir in einer klaren Winternacht unter den Sternenhimmel treten: Ferne grüßt noch das Licht der menschlichen Nähe und heimatlichen Geborgenheit; aber über uns steht der Himmel, und wir empfinden die schweigende Nacht, die uns sonst unheimlich und erschreckend vorkommen mag, als die stille Nähe des unendlichen Geheimnisses unseres Daseins, das bergende Liebe und weite Größe zugleich ist“. AMEN

Die Predigt verdankt wesentliche Anregungen dem Buch:

Klaus Berger: Schweigen. Eine Theologie der Stille. Herder 2021

Zitat von Karl Rahner aus:

Andreas Batlogg, Peter Suchla (Hrsg.): Karl Rahner: Von der stillen Weihnacht unseres Herzens Gebundene Ausgabe. Herder 2021