In Zeiten gesellschaftlichen und kulturellen Umbruchs muss auch die Frage neu beantwortet werden, was es heute heißt, den Glauben zu verkünden. P. Thomas G. Brogl, Provinzial der Süddeutsch-Österreichischen Provinz und Pfarrer an St. Martin, hat sich Gedanken über dieses Thema gemacht.
Wenn ich Menschen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund gefragt habe: „Was würdet ihr zum Thema ‚den Glauben heute weitergeben‘ sagen?“, habe ich vor allem Schulterzucken geerntet. Das Thema ist für die Kirche lebenswichtig, klar! Aber konkret? Schwierig. Noch dazu jetzt, wo die Kirche stark mit sich selbst beschäftigt ist: Missbrauchsskandal, Maria 2.0, neue Pastoralkonzepte der Diözesen etc.
Ein zweites kommt dazu: die Vergangenheit. Ein Mitbruder sprach einmal im Provinzrat der Süddeutsch-Österreichischen Provinz von der „Vergeblichkeit von Verkündigung“: Wir investierten seit Jahrzehnten viel Kraft in die Katechese z.B. bei Erstkommunion und Firmung – doch diese scheint keine Nachhaltigkeit zu haben. Dies ist umso sichtbarer, als eine volkskirchliche „Dorf-Logik“ einer „Logik der Stadtkultur“ (Maria Widl) gewichen ist. Das Wissen um den Glauben ist bei vielen „wie verdunstet“, und doch scheint ihnen nichts zu fehlen. Die Anziehungskraft und Attraktivität von Kirche leidet.
Christsein ist nicht mehr einfach vererbter Besitz, sondern der Glaube muss, angefragt durch Brüche und Säkularismus, je neu und persönlich angeeignet werden.
Erschöpfungs- und Zorngesellschaft
Eines der interessantesten Gespräche über die o.g. Frage hatte ich mit einem befreundeten Künstler. Er meinte, für die Kirche gelte dasselbe, was Heiner Müller für die Theater in Deutschland formuliert habe: Man solle alle Theater für ein Jahr dicht machen und dann schauen, was fehle – und ob überhaupt etwas fehle. Genau das hat das profilierte Columba-Museum, dem Kunstmuseum des Erzbistums Köln, in jüngerer Vergangenheit schon hinter sich: ein Jahr bewusst keine neue Ausstellung – als ein Jahr der Neubesinnung.
Dies zeigt, dass Kirche Teil eines größeren Phänomens ist. In unserer „Erschöpfungs-“ und mittlerweile auch „Zorngesellschaft“ herrscht Ratlosigkeit an vielen Fronten: bei der Frage des Umgangs mit Populismus und wachsendem Extremismus, im Anstieg von psychischen Erkrankungen (v.a. Depressionen) auch und gerade bei jungen Menschen ebenso wie bei der Erosion der klassischen Institutionen wie Parteien, Kirchen oder Gewerkschaften. All diese Phänomene sind Zeichen einer tiefer reichenden Frage. Was die Soziologen „Beschleunigungs- und „Müdigkeitsgesellschaft“ nennen, identifizierten die ersten Mönche und christlichen Therapeuten, die Wüstenväter, mit der „Akedia“: Orientierungslosigkeit, Unzufriedenheit mit dem Altem und Eigenen und zugleich das Ausschauhalten nach immer Neuem, Interessanterem. Das „Loch“ aus Langeweile, Betrübnis, Zorn und Missmut versucht man verzweifelt zu füllen: durch Konsum, Zerstreuungen oder Aktivismus – oder man fällt in dieses hinein: in einer Depression. Gegen die Akedia empfehlen die Wüstenväter als Heilmittel vor allem: 1. kein Aktivismus; innehalten und nicht wegzulaufen vor dem Ungeklärten; 2. zugleich kein Versinken im Eigenen, sondern Ausrichtung nach außen: Begegnung mit dem Schönen und sich der Not des Anderen zuzuwenden.
Auszeit – eine Spiritualität des „Nicht“
Das aber ist genau das Gegenteil von dem, was die Kirche momentan prägt. Vor seiner Wahl hat Papst Franziskus eine krankhafte Fixierung der Kirche auf sich selbst diagnostiziert; zudem stellen wir in Deutschland bei zunehmend leeren Kirchen zunehmenden Aktivismus von immer müder wirkenden kirchlicher Mitarbeiter fest.
Deshalb ist wohl ein erster wichtiger Schritt ein Ausstieg und Innehalten: Mehr Stille wagen und Aussetzen. Eine arme Kirche, wie sie Papst Franziskus propagiert, auch im geistigen Sinne. Mit Meister Eckhart gesprochen: „Ein armer Mensch ist, wer nichts will, nichts weiß und nichts hat“; d.h. nicht reden und machen, sondern die Stille aushalten und in ihr sich neu finden lassen. Dies ist ein Schritt zur Befreiung, denn „das Übermaß an Positivität (der Überproduktion) macht die Pathologie der gegenwärtigen Gesellschaft aus. Nicht Zuwenig, sondern Zuviel macht sie krank“ (Byung-Chul Han).
„Da schwieg die ganze Versammlung“ (Apg 15,12). Unser Mitbruder Christoph Kardinal Schönborn, dem die Neuevangelisierung ein besonderes Anliegen ist, hat in einem Referat in Rom dieses gemeinsame Schweigen als entscheidenden Wendepunkt des sogenannten Apostelkonzils herausgestellt. Für Meister Eckhart bereitet Stille den Weg, wieder selbst und „wesentlich“ zu werden. Das Schweigen sammelt und gibt Gottes Geist die Gelegenheit zu sprechen. Es ist wie bei den Jüngern vor Pfingsten, für die zunächst eine Zeit der Einkehr und des Gebets anstand – trotz Angst, Ungewissheit und Unsicherheit.
„Die Kirche evangelisiert und evangelisiert sich selber mit der Schönheit der Liturgie, die auch Feier der missionarischen Tätigkeit und Quelle eines erneuerten Impulses zur Selbsthingabe ist“ (Papst Franziskus)
Der erste Schritt zur Neuevangelisierung ist die Selbstevangelisierung! Dies hat Papst Franziskus der deutschen Kirche in seinem Brief vom Juni 2019 nahegelegt. Innehalten und überhaupt wieder an die Quelle allen Handelns zu kommen. Ein Punkt ist dabei, wieder den Glauben feiern zu lernen: Bei aller Wichtigkeit wird deshalb die Lösung der vom synodalen Weg in Deutschland vorgeschlagenen Fragen allein nicht genügen, sondern es bedarf der Entfachung eines neuen inneren Feuers: „In dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst“ (Augustinus).
Über den eigenen Glauben sprechen lernen
Hierbei kommen wir zu einem weiteren Punkt: Ein Gemeindemitglied hatte mir erzählt, dass er Predigten kaum mehr erträgt. Er habe das Gefühl, das Wort der Predigt sei nicht mehr gefüllt und beim Heruntersagen von leeren kirchlichen Floskeln und Bekenntnisformeln sei der Mensch hinter dem Prediger oft kaum mehr erkennbar. In einer Zeit, die Authentizität groß schreibt, ein fataler Befund. Gerade heute bedarf es des persönlichen Zugangs und Zeugnisses: Wo hat mich selbst das Evangelium geprägt und verändert? Kann ich dazu überhaupt etwas sagen?
Ich merke es an mir selbst, wie wenig ich darin geübt bin, einfach vom eigenen Glauben zu erzählen. Wir praktizieren es auch in unseren Gemeinschaften nicht, ungeschützt über unseren Glauben zu sprechen (und nicht nur hinter dem „Schutz“ des Intellektuellen). Eine persönliche Erfahrung, die mich nachdenklich machte: Am meisten Rückmeldung habe ich auf Predigten bekommen, wo mehr mein Fragen und Ringen im Mittelpunkt stand als die Antworten.
In einer Zeit, in der alles im Fluss scheint, können Menschen offenbar hier am meisten anknüpfen – in einer Kirche, die wieder mehr Suchgemeinschaft ist als Gemeinschaft von Bekenntnisformeln und vorgefertigten Antworten.
Die Welt, so wie sie ist, an sich heranlassen
Hier stehen wir auch an einer Wurzel unserer Gemeinschaft. Nachdem der hl. Dominikus die erste Idee für den Orden hatte, zog er zehn Jahre suchend und mehr oder weniger erfolglos umher. Dies wirkt ein wenig, wie wenn der erste Impuls in der Sackgasse gelandet wäre und nichts mehr wirklich weitergegangen wäre; und doch ereignet sich gerade in dieser Zeit von Versuch und Irrtum in Dominikus Entscheidendes, was Dominikus und seinen Orden in die richtige Haltung bringt: Er lässt die Kompliziertheit und den Schmerz seiner Zeit an sich heran und erlernt die „Sprache“ der Menschen, die der Irrlehre der Katharer anhängen. Es ist ein Sich-Ausliefern an die Gegenwart – verwurzelt in Christus, aber ohne den Schutz fester Formen.
Der Jesuit Michel de Certeau hat dies wunderbar als Grundakt des Glaubens formuliert: „Glauben heißt „kommen“ oder „folgen“ (eine durch Trennung gekennzeichnete Geste), seinen Ort verlassen, durch dieses Exil außerhalb der Identität und des Kontrakts entwaffnet werden, mithin auf Besitz und Erbe verzichten, um der Stimme des Anderen ausgeliefert und von seinem Kommen oder seiner Antwort abhängig zu werden“. Gerade die dominikanische Auffassung des Ordenslebens als Wanderpredigt hatte – auch intellektuell – immer „eher mit Fahren und Gefahren, d.h. Er-fahrung zu tun als mit dem Sitzen, Katalogisieren und Rubrizieren“ (Tiemo Rainer Peters OP). In ihrem Mut herauszugehen aus dem Gewohnten und Abgesicherten, wurden Orden so immer wieder „Inkarnationsräume“ für das Ungewiss-Neuartige (Ulrich Engel). Hierzu gehört auch wesentlich ein Wechsel der Blickrichtung, die mir eine unserer dominikanischen Laien vermittelt hat: Wir sollen nicht immer meinen, selbst noch mehr anzubieten, sondern andere einladen, mit uns etwas zu machen. Weniger immer selbst alles anzubieten in einer „Komm-her-Pastoral“ als vielmehr sich unter andere zu mischen – unter andere, die nicht so denken wie man selbst und sehen, was mir entgegenkommt an Neuem und was der Hl. Geist zeigen möchte.
„Du fehlst mir“
Dies zeigt aber auch ein ganz anderes Bild von Mission. Nicht wir sind die Handelnden, sondern Gott hat schon gehandelt. Wie Augustinus formuliert hat: Nicht das Wollen des Menschen, sondern die Gnade Gottes ist der Anfang des Glaubens. Deshalb geschieht der Impuls des Missionarischen auch nicht in einer Haltung der Überheblichkeit. Der, der schon im Verborgenen gehandelt hat, wird mit Namen genannt wird (vgl. die Bekehrung des Kämmerers aus Äthiopien. Apostelgeschichte 8,26-40).
Als Verkündiger bringt die Kirche letztlich das Wort „„Du fehlst mir“ – nicht so wie ein Grundeigentümer über das Feld seines Nachbarn spricht, sondern wie ein Liebender. … Immer neu dazu gerufen, sich zu Gott zu bekehren … antwortet sie, indem sie sich anderen kulturellen Regionen, anderen Geschichten, anderen Menschen zuwendet, die der Manifestation Gottes fehlen“ (Michel de Certeau).
„Ich brauche die Wahrheit des Anderen“
Wie Michel de Certeau richtig festgestellt hat, ist aber diese „instabile“ Lebensform nur möglich in einer Rückbindung an Gemeinschaft. Innerkirchlich braucht es dafür eine Stärkung gerade wohl auch von kleinen Gemeinschaften, in denen der Einzelne rückgebunden ist – und so verbunden mit dem Ursprung und der Quelle. Der neue dominikanische Selige Pierre Claverie formulierte exemplarisch für den Dialog, dass es nicht um „politische Kompromisse durch Entgegenkommen“ gehe, sondern in aller Ehrlichkeit und Ungeschütztheit sich einander zuzumuten – auch mit dem „Törichten“ des Glaubens; nicht politischer Kompromiss, sondern Ringen um die Wahrheit. Deshalb brauchen wir bei aller „Verschärfung der Machtlosigkeit philosophisch-theologischer Reflexion“ (Johannes Hoff) eine Schärfung des Geistes und das intellektuelle Durchbuchstabieren des Glaubens in seiner philosophischen, theologischen wie gesellschaftspolitischen Dimension – gerade in unseren ideologieanfälligen Zeiten. Dabei ermutigt Pierre Claverie, Konflikten nicht aus dem Weg zu gehen. Nach meiner Erfahrung ermöglichen auch gerade kontroverse und querstehende Themen Reibungspunkte, die neue Perspektiven eröffnen können. Wie eine Schülerin einmal schön formuliert hat: „Vielleicht muss Glaube ja auch mal nerven dürfen.“
„Wir besitzen nicht die Wahrheit: sie ist es, die uns ergreift und uns immer weiterführt im Prozess ihrer Entdeckung … Ich brauche die Wahrheit des Anderen“ (Pierre Claverie).
Nach Claverie lässt der ehrliche Dialog auch mich erst zu meiner Wahrheit kommen. Echter Dialog sei Konfrontation und „gegenseitige Konversion“. Claverie schreibt: „Alle, Christen wie Nichtchristen, sind aufgerufen, in eine Dynamik der Bekehrung einzutreten, jeder auf seinem eigenen Weg … Diese Wechselwirkung kann im spirituellen Sinne als gegenseitige Bekehrung betrachtet werden“. Immer wieder können wir erfahren: Erst wenn wir wirklich wagen, aus unseren „Blasen“ herauszugehen und uns auf die „Bruchlinien“ von heute zu stellen, erfahren wir die Kraft und Aktualität des Evangeliums.
Räume der Resonanz – Vielfalt der Wege
Ein Beispiel: Wenn ich als Ordensmann noch später nachts am Wochenende im Ordensgewand unterwegs bin, fallen gerade bei Jugendlichen Berührungsängste. In den Begegnungen bitten die Jugendlichen, die weit weg von Kirche sind, interessanterweise oft um zwei Dinge: ob man sie segnen und ob man „die Sünden wegnehmen“ könne. In diesen zwei Grundbedürfnissen des Menschen – dass er gesegnet, über ihn „gut gesprochen“ (bene-dicere) wird und er Heilung seiner Wunden erfährt – zeigt sich etwas, von dem Papst Franziskus immer wieder spricht. Der Grundimpuls Jesu ist, die Menschen ins Vaterhaus heimzuholen. „Was die Kirche heute braucht, ist die Fähigkeit, Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen – Nähe und Verbundenheit … Man muss einen Schwerverwundeten nicht nach Cholesterin oder nach hohem Zucker fragen. Man muss die Wunden heilen. … Man muss ganz unten anfangen“. (Interview mit Papst Franziskus 2013) Unser ehemaliger Ordensmeister Bruno Cadoré hat immer davon gesprochen, dass wir Dominikaner vor allem Hoffnung vermitteln sollen – mit dem barmherzigen Blick der Güte.
Räume „ohne worumwillen“ – Gastfreundschaft
Diese Nähe bedarf vor allem einer Kultur der Gastfreundschaft – unverzweckter Gastfreundschaft „ohne worumwillen“ (Meister Eckhart). Ein Schweizer Banker hat zu einer Dominikanerin einmal gesagt: „Es ist so traurig, dass wir eigentlich nur noch in Zahlen denken; wir sollten in Menschen denken“. Auch in die Kirche ist dieses „Denken in Zahlen“ eingezogen – im ängstlichen Kreisen um sich und den eigenen Einfluss. Es geht aber nicht um Rekrutierung für einen Verein, es geht um das Heil des konkreten Menschen. Wo dies gelebt wird, entfaltet die Kirche von selbst Anziehungskraft.
In der Citypastoral in Freiburg mache ich die Erfahrung, dass die Menschen Orte suchen, wo sie wahrgenommen werden, wo sie sein dürfen und nicht wieder von neuem „zugetextet“ werden und etwas von ihnen erwartet wird. Es braucht auch hier eine neue kontemplative Dimension unserer Pastoral. Das Lied von Horst Bracks „Sei mitten drin in dieser Stadt“ hat Markus Fischer als Mottolied für die Pastoral der Dominikaner in Freiburg eingeführt: „Macht Tore weit, Portale auf, nicht hohe Schwelle darf mehr sein. Holt Menschen ab in ihrem Lauf, zur Rast, zur Stille ladet ein. Schafft Räume, Kanzeln in der Stadt, damit wer leise sich empört, hier Achtung, Schutz und Stimme hat bejaht, getröstet und gehört“. Ort zu sein, wo die Freude wie die Erschöpfung, der Ärger wie das Verletzliche seinen Platz hat – in aller Freiheit; dem „spirituellen Wanderer“ Orte anbieten, an denen er aufatmen kann. Wenn er wieder zu sich kommt, kann der „erschöpfte Mensch“ auch Gott näherkommen. „Sei du dein, und ich werde dein sein“, wie Gott beim Mystiker und Theologe Nikolaus Cusanus dem Menschen zuspricht.
„Scheitern hat keinen eigenen Ort. Es verschwindet, wo es zur Sprache kommt“ – entweder durch Tabuisieren oder Weg-Theoretisieren (Christian Kern).
Räume der Stille und des Heilwerdens
Dafür suchen Menschen heute vor allem Räume der Stille und der Kontemplation, in denen Schönheit und auch das Mysterium erfahrbar werden. Beim Generalkapitel in Vietnam hat ein Mitbruder aus Jerusalem den schönen Gedanken geäußert, dass wir „unsere Stille der Kontemplation teilen sollten“. In dieser Stille muss der Mensch einmal nichts leisten – und in ihr hat auch der Schmerz seinen Platz. Dieser Punkt ist oben von den Jugendlichen mit dem „Sünden wegnehmen“ mit angesprochen. Im Christentum haben sich im Gebet der Klage wie in den Sakramenten Zeichen und Orte entwickelt, in denen das Scheitern einen Ort finden kann; nur muss die Kirche selbst wieder lernen, diese neu für heute zu buchstabieren. Wir Dominikaner haben hier eine besondere Aufgabe als „Prediger der Gnade“, wie es in der Dominikus-Antiphon heißt. In einer Kultur des Erfolgs und der Souveränität ist das Moment der Gnade, des Geschenkten der Zuwendung z.B. im Segen, heilsam. Dies wird aber nur vermittelt in einer kontemplativen Aufmerksamkeit, „ohne worumwillen“.
Ausrichtung hin auf die Fülle des Lebens – mit Geist und Herz
Christsein heißt aber auch Ausrichtung von Geist und Herz auf Christus. Hier hat auch die Katechese einen wichtigen Platz. Eine zentrale Aufgabe von Katechese scheint mir aber gerade auch darin zu bestehen, dass der schon gläubige Christ mit dem notwendigen Glaubenswissen ausgestattet wird, um aktiv ihren Glauben verkünden zu können und somit nicht wie früher vor allem „passiver Empfänger“, sondern in der Kraft von Taufe und Firmung aktive Verkünder des Glaubens zu sein. Bei Erstkommunionvorbereitungen kam es mir immer so vor, wie wenn die Katechese für die Eltern fast noch wichtiger war als die für die Kinder. Zudem fällt mir auf, dass vor allem junge Erwachsene stark nach Katechese fragen: Gerade weil sie wohl vor allem von Gleichaltrigen angefragt sind, wollen sie den Glauben vernünftig begründen können. Es scheint mir in diesem Zusammenhang gerade für uns im Dominikanerorden mit den unterschiedlichen Zweigen von Brüdern, Schwestern, Weltpriestern und Laien wichtig, Wege zu suchen, den apostolischen Dienst gemeinsam wahrzunehmen. An den Orten, an denen dies schon praktiziert wird, bekommt unsere Verkündigung dann eine besondere Kraft – und es zeigt sich ein neues Bild von Kirche.
„Der Christ von morgen wird ein Mystiker sein“
Neben der intellektuellen und gemeinschaftlichen Tradition prägt aber auch die mystische Tradition unseren Orden. Mit der Mystik, die auch so manche Tradition „gegen den Strich“ liest, verbinden die Menschen heute in besonderer Weise Authentizität und Erfahrungsnähe.
Im Spannungsverhältnis zwischen kirchlich-theologischer Gottesrede und der Suche nach einem dem eigenen Ausdruck für die individuell-religiöse Erfahrung vermag gerade die Mystik eine Brückenfunktion einzunehmen und „einen authentischen Gottesbezug und eine authentische Gottessuche des Menschen wieder neu zu begründen (Michael Eckert).
Daran anknüpfend gehört es für mich aber auch heute zu den zentralen Aufgaben von Kirche, Wege zu einer ganz eigenen, individuell geprägten Spiritualität zu eröffnen. Die Jünger an Pfingsten verkünden die Botschaft Gottes – und jeder versteht sie „in seiner eigenen Sprache“ (Apg 2, 8). Dies heißt auch die Sprache der je eigenen Spiritualität des einen Geistes. Auch dies ist Glaubensverkündigung – von der erfahrungsbezogenen und biographischen Ebene her. Nicht umsonst wird die stark am eigenen Lebensweg anknüpfende, ganz individuell geprägte geistliche Begleitung zunehmend nachgefragt. Auch bedarf es eines vielfältigen spirituellen Angebots von verschiedenen Gebetsformen wie Ruhe- und Leibgebet über Schöpfungs-, Schönheits- und Weisheitsquellen bis hin zu Liturgien und Ritualen, wo der „spirituelle“ Wanderer heutiger Zeiten anknüpfen kann und auf seinem je individuellen Weg zur Quelle findet.
Es fällt aber auf, dass das spirituelle Angebot an den meisten kirchlichen Orten sehr eng geführt ist und somit wenig Anknüpfungsmöglichkeiten bietet. Der bekannte Geigenbauer und geistliche Autor Martin Schleske nennt aber ganze sieben Quellen der Spiritualität und betont, wie wichtig es sei, dass jeder „an seiner Quelle sei“. Ganz verschieden kann sich das geistliche Leben nicht nur aus Gebetsquellen (Kontemplation, Anbetung, Lobpreis) (1.) und Leben deutende Weisheitsquellen (Studium, hl. Schrift, Wüstenväter und geistliche Meister) (2.) nähren, sondern die Seele auch in Kreativitäts- und Schönheitsquellen (Musik, Tanz, Kunst) (3.), Schöpfung (4.) und Körperlichkeit (Leibgebet, Sexualität, Sport) (5.) ihre Sprache finden, in der Gott zu ihr spricht. Zu den Gemeinschaftsquellen (Dialog, Gruppen) (6.) treten Riten, Feiern und Gottesdienste (7.), die als „Haltepunkte“ gerade in unserer fluiden Gesellschaft als Kontrapunkte wieder neue Attraktivität gewinnen.
Letztlich wird es in der Glaubensverkündigung darum gehen, Menschen Räume wie zum Beispiel die oben skizzierten anzubieten, in denen sie „ohne worumwillen“ sein können, um Gott zu begegnen – frei von Zwängen des Konsums, des Zwangs und eines wie auch immer beschaffenen „Müssens“; sie aber zugleich nicht „im eigenen Saft schmoren“ lassen, sondern Impulse und Reibungsflächen zu geben, die zu einer Ausrichtung hin auf Christus und auf mehr Lebendigkeit führen können. Damit sich das Wort des Nikolaus Cusanus in jedem Leben ganz individuell erfüllen kann: „Sei du dein, und ich werde dein sein“. Voraussetzung aber aller Neuevangelisierung der Kirche ist aber eine Selbstevangelisierung der Kirche aus dem Geist der Stille und des Hörens heraus, denn „das ewige Wort wird nur in der Stille laut“ (Meister Eckhart).
P. Thomas G. Brogl ist Provinzial der Süddeutsch-Österreichischen Provinz und Pfarrer an St. Martin.